Eine eiskalte Nacht auf der A 40, auch Ruhrschnellweg genannt. Ein Mann liegt auf den Betonelementen des Mittelstreifens. Er ist tot. Was würden Sie tun, wenn Sie einen Toten finden würden mitten in der Nacht auf der A 40, einen Toten, der zufälligerweise auch noch Ihr Chef ist und Ihnen gerade die Kündigung reingereicht hat?
Toni Blauvogel jedenfalls ist keineswegs glücklich über ihren Fund und gerät schnell ins Visier der polizeilichen Ermittlungen. Um ihre Unschuld zu beweisen, wird sie zur Akteurin wider Willen. Ihr Wissen um die sogenannten schwarzen Karteien der Unternehmensgruppe erweist sich dabei als äußerst nützlich. Ebenso wie Max Schulze, ein Hacker, der Toni Blauvogel mit seinen Kenntnissen aufs freundlichste zur Seite steht. Und was die beiden herausfinden, stinkt nach schlagzeilenträchtiger Korruption.
Kalt war es geworden. Schweinekalt. Der Schlüssel im Schloss der Fahrertür rührte sich nicht. Keinen Millimeter. Ich rieb meine tauben Finger und fluchte, weil ich keine Handschuhe dabei hatte. Es half nichts. Das Reiben nicht und auch nicht das Fluchen. Letzteres machte die Sache nur ein wenig erträglicher. Ein Blick über das Parkdeck bestätigte mir, was ich ohnehin schon wusste. Keiner hier um diese gotterbärmliche Zeit. Niemand, der mir mit Enteiser hätte aushelfen können. Seufzend öffnete ich die Heckklappe meines
Ford und begann, den ganzen Krempel wieder herauszuräumen, den ich im Laufe der letzten Stunde dort hineingestopft hatte. Ein paar kleinere Pflanzen. Drei gerahmte abstrakte Drucke, schwer in ihrer Größe. Ein ausladender Eukalyptus, ebenfalls schwer. Vier Umzugskartons voll mit Büchern und Aktenordnern. Schwer natürlich. Eine Lampe, wie sie in den Filmen der Schwarzen Serie auf den Schreibtischen der Kommissariate zu finden ist. Ein Sitzball. Mehrere Tüten voll mit Zeugs. Becher. Schmuckdosen. Teebüchsen. Besteck. Mitbringsel aus diversen
Urlauben. Keramik. Handschmeichler. Fächer. Holztiere. Zeugs eben. Nie wieder, schwor ich mir, nie wieder würde ich irgendeinen Arbeitsplatz noch einmal mit meinem persönlichen Müll so voll stopfen.
Ich kletterte über die nun freigeräumte Ladefläche meines verbeulten Kombis und tastete über der Lehne des Vordersitzes nach dem Knopf der Verriegelung. Nach kurzem Ruckeln gab der Knopf nach und die Tür war frei. Als ich zurück kroch, riss ich mir die Hand an etwas Scharfkantigem auf. Eine Klemme
von einem der Bilderrahmen, tippte ich, während ichdas Blut aufsaugte. Es war eindeutig nicht mein Tag heute.
Eine halbe Stunde später befand ich mich auf der A40. Das Gebläse verbreitete lautstark einen Hauch von Wärme. Olli Briesch klotzte ein paar freche Sprüche. Nickelback wurde gespielt. Ich drehte das Radio auf und röhrte lautstark den Refrain mit. »How do you remind me...«. Schlagartig besserte sich meine Laune. Ich trat das Gaspedal durch und spornte mein
altes Möhrchen zu Höchstleistungen an, trieb es am Kreuz Bochum vorbei, jegliche Geschwindigkeitsbeschränkung ignorierend. Durch den Tunnel hindurch und vorbei an der Baustelle, die bereits seit drei Tagen die linke Spur im Tunnel blockierte. Wusch! Köstliche Rache für all die Stunden, die ich so häufig damit verbracht hatte, mich Meter für Meter von Essen nach Dortmund zu quälen. Oder nach Mönchengladbach. Oder nach Köln. Hin und zurück. Tag für Tag. Mal besser, mal schlechter. Aber nie gut. Aus diesem Grund nannte ich die in den achtziger
Jahren zur Autobahn beförderte ehemalige Bundesstraße 1 nach wie vor nur Ruhrschnellweg. Den Begriff Autobahn verdiente diese Straße einfach nicht. Autobahn impliziert schließlich ein schnelles Vorankommen.
Das Licht der Scheinwerfer erfasste etwas. Groß. Liegend. Eindeutig nicht dort hin gehörend. Ich stieg voll in die Bremsen und brachte den Wagen schlingernd auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Angestrengt spähte ich zurück ins Dunkel. Nichts zu erkennen. Fahr heim, brummelte ich. Da ist nichts. Fahr heim, leg
dich endlich schlafen und vergiss diesen gottverdammten Tag. Der Gedanke war verlockend. Dennoch legte ich den Rückwärtsgang ein. Setzte langsam auf dem Seitenstreifen zurück, Meter für Meter, bis ich es wieder im Blick hatte, dort, in der sanften Biegung der Rechtskurve.
Es befand sich auf dem Mittelstreifen, dessen aufwendiger Bau im vergangenen Jahr sehr zur Freude der Berufspendler beigetragen hatte. Der Mittelstreifen der Autobahn 40 ist hier eigentlich kein Streifen mehr. Betonelemente erheben sich bis auf
Kinnhöhe, und oft habe ich mich gefragt, warum sie nicht noch fünfzig Zentimeter höher hätten gebaut werden können. Dann wäre mir der Zweck wenigstens klar. Ein Blendschutz. Allein das konnte der Grund jedoch nicht sein für diese aufwendige Baumaßnahme, denn selbst mich mit meinen nur knapp einseinundsechzig blendet der Gegenverkehr nach wie vor. Um diese Uhrzeit jedoch blendete nichts. Kein Schwein schien unterwegs zu sein. Nur ich.
Es lag da wie aufgebahrt. Ägyptische Mumie oder so was. Wegen der Füße, die exakt parallel ausgerichtet in die Höhe ragten. Und der Arme, die über der Brust gekreuzt zu sein schienen. Eindeutig menschlich. Reglos. Platt auf dem Rücken, auf der Grasnarbe des aus Betonelementen gebauten Mittelstreifen der A40, auch B1 genannt. Oder Ruhrschnellweg. Um drei Uhr morgens. »Hallo«, rief ich hinüber. »Kann ich Ihnen helfen?« Die Frage kam mir ziemlich bescheuert vor. Es regte sich immer noch nicht. Also vergewisserte ich mich, dass kein Scheinwer-
ferlicht ein nahendes Fahrzeug ankündete, rannte über die Fahrbahn und stemmte mich auf den Betonstreifen hinauf.
Ich erschrak. Der Mann trug weder Schuhe noch Mantel. Sein Körper wirkte, als wäre er gerade aus einer Gefriertruhe geholt worden. Schnurrbart, Augenbrauen und Haare waren von hellen Eiskristallen dicht bestäubt, so dass sie wie Zuckerwatte aussahen, das Gesicht schien unter der dünnen Eisschicht verzerrt und dadurch bizarr entstellt. Schnell ließ ich mich in die Hocke nieder, rüttelte leicht an der Schulter des Mannes und registrier-
te die frostige Kälte, die dieser Körper verströmte. Hier konnte ich nichts mehr tun. Ich kramte mein Handy hervor und wählte die 110. Der Wind schnitt mir eisige Furchen ins Gesicht.
Endlich kam einer, der was zu sagen zu haben schien. Leider einer von den Typen, mit denen ich in Windeseile aneinander gerate. Wir brauchen uns nur anzusehen, und schon geschieht es. Unaufhaltsam. Eine Art Selbstläufer. Ich weiß nicht warum. Das heißt, wenn ich mit so einem gesprochen habe, weiß ich im Re-
gelfall schon, warum. Aber mit diesem hier hatte ich noch kein Wort gewechselt, und bereits jetzt war mir klar, dass das kein erfreuliches Gespräch werden würde. Es musste an diesem dünnen, geschwungenen Oberlippenbärtchen liegen. Oder an der eckigen goldgefassten Brille. Oder an den sorgfältig nach hinten gegelten Haaren. Oder an diesem Flair von Mr. Wichtig, das ihn umhüllte wie ein zu schweres After Shave. Oder einfach nur an diesen paar Zentimetern, die er mir zu dicht auf die Pelle rückte.
Er richtete den Strahl einer Taschenlampe unverschämt direkt in mein Gesicht. »Name?« Sein Tonfall war brüsk. Ich schob die Lampe ein paar Zentimeter beiseite. »Toni Blauvogel.« Dann erst trat ich einen Schritt zurück. »Toni?« Sein Blick wanderte über meine Brüste, die sich unter der dicken Winterjacke abzeichneten. Er grinste sarkastisch. Schützend verschränkte ich die Arme vor meiner Brust. Ich mochte es nicht, wie er mich taxierte. »Antoinette«, korrigierte ich widerwillig. »An-to-i-net-te«, flötete er melodiös, jede Silbe einzeln betonend. »Ist
doch viel schöner als Toni.« Ich zuckte mit den Schultern. Was ging es ihn an. »Sonst noch was?«, fragte ich. »Alter?«; »Vierundvierzig.« »Wohnort?« »Essen.« »Postleitzahl?« Der Kasernenton ging mir auf die Nerven. »45130. Hören Sie...« »Straße?«, unterbrach er mich brüsk. »Jawoll!« Zackig riss ich meinen Körper in die Senkrechte und imitierte den militärischen Gruß. »Rellinghauser 111.« Dann schüttelte ich befremdet den Kopf. »Sagen Sie mal, können Sie eigentlich auch normal reden?« »Beruf?« »Was tut denn das hier zur Sache!« Er fixierte
mich mit strengem Blick. »Beruf?«, fragte er erneut. »DV-Organisatorin ... nein ... arbeitslos ... hm ... nein ... auch nicht.« »Also was denn nun?«, fragte er gereizt. Mir platzte der Kragen. »Demnächst arbeitslos«, blaffte ich zurück. »Bald eventuell selbstständig. Oder wieder irgendwo angestellt. Suchen Sie sich's aus, irgendwas wird schon passen. Aber ich weiß verdammt noch mal nicht, was das mit diesem Menschen da auf dem Mittelstreifen zu tun hat. Ich habe ihn im Vorbeifahren dort liegen sehen. Ich habe angehalten und den Notruf angerufen.
Seit über einer Stunde sitze ich nun hier, beobachte Ärzte und Polizei bei der Arbeit, friere mir den Arsch ab und muss mir jetzt auch noch Ihren bescheuerten Feldwebelton reinziehen. Ich habe die Schnauze voll. Ich fahre jetzt nach Hause!« »Das werden Sie nicht tun!« Drohend richtete er den Strahl seiner Taschenlampe erst direkt in mein Gesicht, dann auf das Chaos im Innern meines Wagens. »Ach ne«, höhnte ich aufgebracht. »Werde ich also nicht?« Ich öffnete die Fahrertür. »Ich habe aber nichts mehr zu sagen. Und deshalb werde ich jetzt fahren,
bevor hier der morgendliche Berufsverkehr anrollt. Falls Sie noch Fragen haben: Sie haben ja meine Adresse. Aber bitte zu einer angemesseneren Tageszeit, wenn's recht ist, und in angemessenerem Ton!« Der Escort, wieder kalt geworden, protestierte hustend gegen den neuerlichen Start. Hoppelnd fuhr ich in Richtung Essen davon. »Mensch Vogel«, fluchte ich. »Was für ein Scheißtag!«
Werner Paschke
ist die Stufenleiter ziemlich weit hinauf gekommen. Mit Outsourcing, Stellenabbau und Lohnsenkung liegt er ebenso im Trend wie mit der großzügigen Hege und Pflege geschäftlicher Beziehungen. Nun liegt er auf der A 40. Tot.
Wanda Paschke
sitzt selbst fest im Sattel und scheint vom Tod ihres Mannes nicht sonderlich berührt.
Ralf Echsenstein
kocht sein eigenes Süppchen, obwohl er als Betriebsratsvorsitzender einen anderen Auftrag hat. Die Frage ist nur, warum.
Helena Schmiedenberg
ist Paschkes Sekretärin und man munkelt, mehr als das. Die tüchtige Schöne gibt sich sehr zurückhaltend.
Reinhold Schütte
ist nicht so wichtig, wie er tut und eigentlich sogar ganz nett.
Bea Hellebrosch
als ermittelnde Beamtin hat die Nase voll von Tonis Eskapaden und keine Lust, ihren Job für sie zu riskieren.
Max Schulze
hat Spaß am Knacken fremder Systeme und mit der Sache eigentlich nichts zu tun.
Toni Blauvogel
führt als leicht verschrobene Akteurin wider Willen die Leser durch Essens Szenerie und einen Teil des Ruhrgebiets. Als Ich-Erzählerin nimmt sie dabei kein Blatt vor den Mund.
Ursula Sternberg: Ruhrschnellweg (Buchumschlag)
Ursula Sternberg
Ruhrschnellweg
ISBN 978-3-938834-21-3
assoverlag Oberhausen
Erschienen März 2007. Preis 12,90 €
Taschenbuch. 240 Seiten
Im assoverlag Oberhausen sind die Kriminalromane Insolvenzgeld, Ruhrschnellweg und Variationen der Wahrheit erschienen.
assoverlag Ingrid Gerlach
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Ab Januar 2021 sind die Kriminalromane Ruhrbeben, Innenhafen und Nachtexpress in einer Neuauflage als BoD erhältlich.
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